Effekte von Mantra-Chanten auf das Nervensystem
"Mantra" bedeutet die schöpferische Projektion des Geistes durch Klang ("man" bedeutet "Geist" und "trang" "Welle" oder "Projektion"). Mantras sind Formeln, die aus Silben, Worten oder Versen bestehen und spirituelle Symbole, Darstellungen oder magische Beschwörungen evozieren.
Durch den Klangstrom, der uns beim Chanten von Mantras erfüllt, fühlen wir uns erhoben, beruhigt und entspannt. Meditationen mit dem Mantra "Ek Ong Kar Sat Gur Prasad Sat Gur Prasad Ek Ong Kar", dem "magischen Mantra", sollen einen besonders kraftvollen Effekt haben. Das "mächtigste aller Mantras" ist so stark, dass es das Selbst über die Dualität hinaus erhebt und den Fluss des Geistes festigt. Der Geist wird so mächtig, dass er alle Hindernisse aus dem Weg räumt. Die Macht dieses Mantras geht sogar so weit, dass es mit Ehrerbietung gechantet werden muss, sonst könnte es eine heftige Gegenreaktion geben.
Was wir beim Chanten wahrnehmen, ist eine tiefe Vibration unseres Körpers bis in die Zellen hinein. Unser Körper wird zur Klangschale und vibriert mit den heiligen Lauten, ja, die Zellen scheinen mit einzustimmen. Insbesondere in Gruppen, wenn wir in Resonanz gehen zum Klang unserer eigenen Stimme und den anderen Stimmen im Raum, wird die Vibration potenziert und erzeugt eine gemeinsame Frequenz, die höher und höher schwingt, den Naad.
Doch was passiert eigentlich im Körper beim Chanten?
Die Vibrationswellen, die beim Singen entstehen, wirken nicht nur auf unsere Sinne, sondern bis in die Tiefen unserer Körpersysteme. Insbesondere das Nerven- und das Drüsensystem werden dadurch stimuliert. Vor allem in der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) und im Hypothalamus, die nah am Gaumen sind, können wundersame Effekte beobachtet werden. Wenn die Hypophyse, die Meisterdrüse, die alle anderen Drüsen im Körper steuert, durch den Klang "massiert" wird, schüttet sie vermehrt Sekrete aus. Diese Sekrete optimieren wiederum die Funktionen aller anderen Körperdrüsen, was einen enormen Effekt auf unsere Gesundheit hat, deren Wächter die Drüsen sind.
In denjenigen Bereichen des Gehirns, die durch das Chanten angeregt werden, laufen außerdem zahlreiche Hirnnerven zusammen, u.a. der Vagus-Nerv, der X. Hirnnerv, der den Hauptteil des parasympathischen Nervensystems ausmacht. Der Vagus wird beim Chanten zusätzlich dadurch stimuliert, dass wir lang ausatmen. Das Resultat ist eine Vertiefung der Atmung, was wiederum einen tiefen Ruhe- und Entspannungszustand auslöst. Wir werden präsenter und das Gedankenkarussell wird unterbrochen. Durch das gemeinsame Singen in der Gruppe steigt der Gehalt des Bindungshormons Oxytocin. Wir synchronisieren uns mit der Musik und miteinander in der Gruppe.
Doch spielt es eine Rolle, was wir singen?
Ja, das tut es tatsächlich. Die uralten Mantras, manche mehrere tausend Jahre alt, wurden nach spezifischen Klangmustern kreiert. Diese Muster enthalten v.a. Vokale, die mehr vibrieren als Konsonanten (z.B. Maaaaaa, Sa Ta Na Ma). Manche Konsonanten haben jedoch auch eine besonders kraftvolle Wirkung aufgrund der Berührungspunkte der Zunge am Gaumen. Am Gaumen gibt es 84 Meridianpunkte, deren Stimulation direkt auf das Gehirn wirken. Aufgrund dieser machtvollen Effekte ist das Chanten von bestimmten Mantras oder spezifischer Klänge ein wichtiger Teil der spirituellen Praxis quasi aller Kulturen zu allen Zeiten überall auf der Welt. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir die Bedeutung der Mantras verstehen oder nicht. Unsere Zellen verstehen sie und vibrieren in ihrer heilsamen Frequenz.
Weitere physiologische Wirkungen von Chanten sind:
- Verbesserung der Immunfunktion
- Verstärkung der Balance zwischen den Gehirnhälften
- Energetisierung der Nadis (Energiekanäle)
- Förderung der Durchblutung der Organe
- Stabilisierung des Blutdrucks
Darüber hinaus wirkt Chanten sehr heilsam auf die Psyche. Beim Singen werden Hormone wie Serotonin (Glücksgefühl) und Noradrenalin (Schmerzreduktion) ausgeschüttet. Daher wird das Chanten von Mantras auch als nicht-medikamentöse Behandlung bei zahlreichen Beschwerden verwendet (s. die Medical Meditations von Dharma Singh Khalsa). Insbesondere bei Stress und hohem Blutdruck konnten laut Studien gute Ergebnisse erzielt werden. Für die Wirkungen von Mantra-Meditation auf die Lösung von Angststörungen und Immunität ist noch weitere Forschung erforderlich.
Bei all der Würdigung des Mantra-Chantens darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es wissenschaftlich schwer ist nachzuweisen, ob die heilsamen und positiven Wirkungen von Mantra-Meditationen vom Mantra an sich oder der Meditation generell kommen. Verschiedene Formen von Meditation haben denselben oder einen ähnlichen Effekt wie das Singen von Mantras, z.B. die Verlangsamung der Atmung. Daher ist auch hier noch weitere Forschung notwendig, um genauer zu verstehen, wie das Mantra-Chanten wirkt und welche Heilkräfte ihm konkret zugeschrieben werden können.
In einer Studie wird sogar hervorgehoben, dass eine Praxis, die aus reiner Mantra-Meditation besteht, negative Effekte auf Emotionen haben könne. In Kombination mit physischen Yoga-Übungen sowie mit der Vermittlung ethischer Prinzipien sei die Mantra-Meditation jedoch hauptverantwortlich für die Verbesserung des Körperbewusstseins, des Selbst-Mitgefühls und der Stress-Resistenz. Sie hebt die zentrale Rolle der Mantra-Meditation hervor in Bezug auf die Erhöhung der Interozeption, Selbst-Wahrnehmung und körperliche Verarbeitungsprozesse (s. Matko et al.). Die Autoren führten weitere Studien durch mit dem Ergebnis, dass die Zusammenstellung der Komponenten einer spirituellen Praxis individuell sehr unterschiedliche Effekte auf das Wohlbefinden haben kann. Es kann jedoch angenommen werden, dass eine ganzheitliche Praxis, die Mantra-Meditation, Körperübungen und yogisches Wissen umfasst, eine sehr förderliche Auswirkung auf den Gesamtzustand des Menschen hat.
Erschienen in: Kundalini Yoga Journal "Mantra und Musik", Winter-Ausgabe 2024.
Literatur:
Khalsa, Dharma Singh und Cameron Stauth: Meditation as Medicine - Activate the Power of Your Natural Healing Force. New York: Atria, 2001.
Matko, Karin, Peter Sedlmeier und Holger C. Bringmann: Embodied Cognition in Meditation, Yoga, and Ethics-An Experimental Single-Case Study on the Differential Effects of Four Mind-Body Treatments. Int J Environ Res Public Health. 2022 Sep 17;19(18):11734. doi: 10.3390/ijerph191811734.
Shannahoff-Khalsa, David: Sacred Therapies - The Kundalini Yoga Meditation Handbook for Mental Health. New York: Norton, 2012.
Tseng, Ampere A.: Scientific Evidence of Health Benefits by Practicing Mantra Meditation: Narrative Review. Int J Yoga. 2022 May-Aug; 15(2): 89–95. Published online 2022 Sep 5. doi: 10.4103/ijoy.ijoy_53_22